„Das Neueste …“, Margret beugte sich leicht
vor, als wollte sie vermeiden, dass man an anderen Tischen mitbekam, was sie zu
sagen hatte.
„Erzähl schon.“
„Mach‘s nicht so spannend.“
„Es ist spannend. In unserer Tiefgarage hat man …“ Schon
wieder eine kleine Pause. „Hat man eine Leiche gefunden.“
Das war wirklich spannend, nämlich – die Todesursache.
„Schlaganfall?“, fragte Johanna.
„Herzinfarkt wahrscheinlich,“ meinte Susanne.
„Mord!“ Ein Wort genügte, um alle sprachlos zu machen.
Selbst Irmtraud fand keine Worte, fing sich dann aber und wiegelte ab: „Mord?
Nicht hier im Haus am Kirchberg. Und im Übrigen, woher weißt du davon?“
Margret wiegte ihren Kopf, blickte zu Seite und sagte: „Ich höre Vieles, was im
Haus passiert.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage,“ Irmtraud sah Margret strafend an. Irmtraud war so etwas wie die Wortführerin dieser
Viererrunde, die sich des Öfteren in der Cafeteria traf.
Sie konnte sich Strenge im Umgang erlauben.
„Na, ja, ich saß mal wieder im Sessel vor dem Sekretariat und habe gehört, wie
drinnen davon gesprochen wurde, es fiel auch das Wort ‚Polizei‘“.
„Dann könnte es stimmen.“ Susanne war schon fast überzeugt.
Jetzt meldete sich Johanna zu Wort: “Ich
bin vorgestern am Sekretariat vorbeigekommen und habe da einige Herren
herausgekommen sehen. Der Geschäftsführer war auch dabei.“
„Polizei. Kriminalbeamte. Jetzt geht’s los.“ Das war Irmtrauds Meinung.
Offensichtlich gefiel ihr der MORD nun doch.
„Was geht los?“, fragte Susanne.
„Na, was wohl?“ Irmtraud guckte streng. „Ver-hö-re!“
„Wie? Warum? Was meinst du?“, Johanna.
„Irgendwer muss es ja gewesen sein“, Susanne
hatte die Situation erfasst. Sie lehnte sich zurück und sah in die Runde, als
suchte sie bereits den Täter unter den netten alten Leuten an den Nebentischen..
„Hier aus dem Haus? Niemals!“ Johanna strich energisch ihre silberweißen Haare
nach hinten. „Nein, niemals. Und wir wissen doch auch gar nicht, wie es
passiert ist.“
„Mit einem stumpfen Gegenstand, vermute ich mal. Und
die gibt es in der Tiefgarage genügend, da hat doch auch der Gärtner seine
Werkzeuge.“ Irmtraud.
„Aber es kann doch auch jemand von draußen gewesen sein.“ Johanna.
„Und wie soll der oder die in die Garage gekommen sein? Die ist doch sicher
abgeschlossen.“ Margret.
„Von wegen, in die kann jeder rein – muss allerdings erst mal ins Haus kommen.“ Irmtraud, die ihren Mercedes dort stehen
hatte.
„Ja, und wie kriegen wir raus, wer’s war?“ Johanna.
„Gar nicht, liebe Johanna. Oder willst du durchs Haus gehen und Leute befragen?
Absurd.“ Irmtraud.
„Erst einmal müssen wir erfragen, wer
überhaupt ermordet worden ist, dann
ergeben sich schon Ansatzpunkte. Ich wohne seit langen Jahren hier im Haus, ich
weiß ‚wer mit wem‘ oder ‚wer gegen wen‘.“ Margret. Es war ihr Fall und sie
wollte ihn lösen.
Da gab es schon eine erste
Schwierigkeit: Wem konnte man das Geheimnis entlocken? Man erfuhr ja nicht
einmal, wenn eine Nachbarin krank geworden war und in der Pflegeabteilung
verschwand. Erst recht nicht, dass jemand verstorben war.
Da musste man sich auf die Kondolenzmappe verlassen, die aber nicht immer
komplett war.
Und darauf würde man auch in diesem Fall vertrauen müssen. Also wurde die
Lösung vertagt und alle beschlossen, Augen und Ohren offen zu halten. Bis jetzt
wusste man wusste ja nicht einmal, wann DAS passiert war.
Einen Tag später, wieder bei Kaffee und Kuchen.
„Hach, ich wusste es doch!“
„Was?“
„In der Mappe –„ aus dem Leben gerissen!“ Das kann doch nur heißen: Mord.“
Margret war als Erste in der Cafeteria und stand noch, als Susanne und Irmtraud
gemeinsam hereinkamen. Nachdem alle saßen: „Nun sag schon – wer?“, Irmtraud.
„Ich kenne sie nicht. Eine Frau Ullrich.“
„Ich dachte, du kennst hier jeden im Haus. Hast du doch gestern verkündet. Aber
– ich kenne sie. Nette bescheidene kleine Person. Witwe natürlich. Die Kinder
kommen regelmäßig. Schien alles in Ordnung zu sein.“ Irmtraud wusste auch
vieles.
Nun saßen erst einmal alle schweigend da; auch Johanna war eingetrudelt, hatte
die letzten Worte noch mitbekommen. „Alles in Ordnung – wie schön.“
„Bescheidene Person, sagst du? Dann kann es ja kaum um Geld gehen.“ Susanne
ergriff das Wort.
„Kann man so nicht sagen, manche hier im Haus treten bescheiden auf, haben aber
allerhand auf dem Konto.“ Margret. Sie sah sich in der kleinen Gruppe um und
grinste ein wenig. Susanne fragte sich, warum. Sie wusste ja nicht, dass sich
ihre Freundinnen immer mal wieder fragten, wieso sie sich die teure Wohnung
leisten konnte: drei Räume, Westseite, ganz oben.
Aber ob Frau Ullrich tatsächlich so viel Geld hatte, dass es sich für ein
Familienmitglied lohnen würde, sie zu ermorden, das fragten sich alle vier nur still
für sich. Einen solchen Verdacht wollte man nicht aussprechen.
„Tja, irgendein Motiv muss es geben“, Margret blieb dran.
„Könnte ja auch ein Unfall gewesen sein,“ gab Johanna zu bedenken. „Weiß denn
jemand, wo genau man sie gefunden hat?“ Auch Johanna kannte die Tiefgarage, sie
brauchte allerdings keinen Platz mehr, ihr Auto samt Führerschein waren
Vergangenheit.
„Wofür soll das wichtig sein?“, fragte Irmtraud.
„Sie könnte ja ausgerutscht und gestürzt sein und unglücklich irgendwo
aufgeschlagen sein.“ Johanna.
Ja, das konnte sein.
„Kommt denn die Polizei auch bei Unglücksfällen? Das kann ich mir nicht
vorstellen.“ Margret wollte zu gern bei Mord bleiben. Allerdings
konnten die vielen Männer, die mit dem Geschäftsführer das Büro verlassen
hatten, auch Leute aus der Verwaltung gewesen sein. Das mussten nicht zwingend
Polizeibeamten gewesen sein. Das wussten alle, wollten es aber nicht laut sagen
– Polizei war interessanter als einfache Angestellte des Hauses.
„Wer mag die Polizei denn gerufen haben?“ Irmtraud.
„Der oder die, die sie gefunden hat. War
vielleicht übereifrig.“ Susanne.
„Das kann man wohl sagen. Da rufe ich doch erst einmal jemand von den
Pflegekräften …“
„Oder eins-eins-zwo …“
„Und dann melde ich mich bei der Geschäftsführung …“
„Bringt das ganze Haus in Verruf …“
„Ob die arme Frau da schon tot
war?“, Margret hätte es gern genau gewusst. Vielleicht hatte man ja doch die
112 angerufen. Der Wagen kam so oft zum Haus, dass es gar nicht aufgefallen
wäre.
„Schade, dass wir nicht wissen, wer sie gefunden hat. Wen könnte man denn
danach fragen?“ Johanna hatte Blut geleckt – im übertragenen Sinne natürlich.
„Das hab‘ ich schon versucht, bin aber abgeblitzt.“ Susanne war recht
kleinlaut.
„Und wen hast du gefragt?“, wollte Irmtraud wissen.
„Die Damen an der Rezeption.“
„Das hätte ich dir gleich sagen können, die verraten gar nichts, wissen von gar
nichts.“
Johanna überlegte: „Wo hat sie denn gewohnt? Vielleicht wissen die Nachbarn
etwas?“
Niemand wusste es. Aber das konnte man klären, es gab an der Rezeption eine
Mappe mit Angaben zur Person: Wohnungsnummer, Telefonnummer. Johanna erbot
sich, danach zu sehen und machte sich auch gleich auf den Weg.
Aber schon ihr schleppender Gang bei der Rückkehr verriet, dass sie keinen
Erfolg gehabt hatte. Was war los?
„Flott sind sie, das muss man ihnen lassen: Als hätte es diese arme Frau nie
gegeben. Kein Eintrag unter Ullrich.“ Johanna ließ sich wieder auf ihren Stuhl
sinken, ergriff die Kuchengabel und tröstete sich mit dem Rest der
Champagnertorte.
„Fangen wir ganz von vorne
an“, sagte nun Irmtraud. „Machen wir eine Ortsbesichtigung.“
„Ach, ja, vielleicht finden wir noch Blutspuren.“ Margret war begeistert.
Ärgerte sich aber doch, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen war. „Wir
brauchen aber Taschenlampen“, ergänzte sie, praktisch wie sie war.
Irmtraud hatte eine im Auto, Johanna glaubte, auch eine zu haben. Das reichte.
Ortsbesichtigung. Mit dem
Vorwand, etwas aus dem Auto von Irmtraud holen zu wollen – falls jemand dumme
Fragen stellen sollte.
Erst einmal wurden die Geräte besichtigt, die in verschiedenen Ecken der
Tiefgarage standen. Nichts. Jedenfalls nichts, was wie Blut aussah. Es sah auch
nicht so aus, als hätte man alles abgewischt. Alles ziemlich alt und
verschmutzt.
Nun also der Boden. Mittelgang.
Dann zwischen den parkenden
Autos.
Vielleicht war eines der Autos unterwegs gewesen? Also darunter ausleuchten.
Wer? Die Beweglichste: Susanne.
„Siehst du was?“, fragte Johanna.
„Mach es nur ja gründlich, wir dürfen nichts übersehen.“
„Da. Da ist etwas.“ Susanne jubelte.
„Ja was denn? Was denn? Her
damit.“ Irmtraud.
„Ja klar, aber wie? Soll ich etwa drunter kriechen. Nee danke.“ Susanne war
sauer, dass sie sich nicht gegen die Zumutung gewehrt hatte – aber Irmtraud
hatte so eine Art …
„Aber was ist es denn?“, drängelte Johanna.
„Sieht aus wie …“
„Wie?“
„Wie ein Rest vom Flatterband!“
„Vom Flatterband?“
„Ja, du Schaf, vom Flatterband der POLIZEI!“
Ahhh. Der Beweis.
Da war etwas gewesen.
Sie brauchten das Band gar nicht. Seine Anwesenheit war Beweis genug. Tiefe
Befriedigung. Wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, hätte man einen kleinen
Freudentanz vollführt, oder etwas Ähnliches. Aber in letzter Sekunde konnte man
sich zurückhalten. Man war Mensch und Dame. Nur Susanne, die bewegliche, setzte
an. Brach aber ab, knipste die Taschenlampe aus und lehnte sich gegen den
Irmtraud-Mercedes.
Wenn jetzt jemand gesagt hätte „der Fall ist gelöst“, hätte niemand
widersprochen. Obwohl …
Man machte sich auf den Weg
zurück zur Cafeteria. Neben dem Tresen der Rezeption stand Frau Klarbach, eine
Nachbarin von Margret. Sie wedelte mit einem Zeitungsteil.
„Das Neueste“, rief sie und stürzte auf die vier Detektivinnen zu.
„Was?“
„Was ist los?“
„Nun reden Sie schon.“
„Was steht denn drin?“
„Lesen Sie selbst“, sagte Frau Klarbach und reichte Margret die Zeitung, den
Lokalanzeiger.
„Kommt mit in die Cafeteria, da haben wir mehr Ruhe.“ Margret als die
Hauptermittlerin übernahm das Kommando.
Der Lokalanzeiger Erkrath berichtete
auf Seite eins:
„Brutaler Mord im Haus K.?
Wie wir aus gut unterrichteter Quelle erfahren, ist in einer Wohnanlage für
Senioren in unserem Ort eine Leiche gefunden worden. Die Polizei ermittelt,
kann oder will aber bisher nichts zur Tat und zum Opfer verlauten lassen.“
Da wussten Irmtraud, Johanna,
Margret und Susanne schon wesentlich mehr. Aber die einhellige Meinung am Tisch
war: Nachforschungen einstellen! Wozu haben wir schließlich die Polizei?
Zu einem richtigen Mord gehörte schließlich ein Täter … und wenn der – oder die
– mitbekam, dass man herumschnüffelte – nein danke. Niemand wollte die Nächste sein - der allerneueste Mord.