Sonntag, 26. Januar 2020

Der Tote in unserem Garten


Die Sonne schien und lockte Johanna auf den Balkon hinaus. Sie erfreute sich an der Bepflanzung ihres Blumenkastens, drei strahlend gelbe Stiefmütterchen eingebettet in dicke Tannenzweige. Sah hübsch aus und war preiswert gewesen. Sie blickte hinunter in den Garten, der das Haus umgab und überprüfte dabei, was ihre Nachbarn auf den Balkonen gepflanzt hatten: Längst nicht so schlicht und schön wie bei ihr.
Unten im Garten hatte der Gärtner schon wieder etwas herumliegen lassen, einen Sack Erde wahrscheinlich, sehr groß. Direkt unter der Weide. Zu sehen war er nicht. Man sah ihn nur zusammen mit seiner Motorkarre, das heißt, er saß drauf und verärgerte alle Nachbarn durch seinen Lärm. Jetzt war nichts zu hören. Sollte der Sack da über Nacht liegenbleiben?
Telefon im Wohnzimmer: Gerda. „Geh mal auf den Balkon und sieh dir das an, jetzt schlafen die Penner schon in unserem Garten.“
„Penner, in unserem Garten? Wie meinst du das?“
„Ja, geh mal raus und sieh es dir an, der Kerl liegt schon seit Stunden da.“
„Ach was, ich habe auch was gesehen, das ist ein Sack Erde, den der Dicke hat liegen lassen.“
„Meinst du? Ich halte das für einen Mann in einem braunen Mantel.“
Johanna strich ihre weißen Haare aus dem Gesicht, ging wieder auf den Balkon und guckte. Diesmal angestrengt. Der Sack oder der Penner hatte sich nicht bewegt. Mussten sie etwas tun?
„Gerda, ich erkenne ehrlich gesagt nicht, was das da unten ist, halte es immer noch für einen Sack mit Erde. Aber müssen wir nicht was unternehmen, wenn es wirklich ein Mensch ist?“
„Ach was, lass den Kerl ausschlafen, dann wird er schon wieder verschwinden.“
„Aber es wird gleich dunkel und es wird gleich kalt werden. Wenn dann etwas passiert, sind wir schuld, unterlassene Hilfeleistung nennt man das.“
„Wir müssen es ja niemand erzählen, dass wir was gesehen haben“, sagte Gerda und versetzte Johanna damit in Erstaunen. Gerda war doch immer sehr korrekt gewesen.  Nicht nur das, sie ließ auch anderen keine Unkorrektheiten durchgehen.  Und nun so etwas.
„Aber Gerda“, sagte sie nur, hatte eigentlich auch keine Lust, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie trennten sich, leichte Verstimmung auf beiden Seiten.

Johanna legte den Hörer auf, machte sich einen Becher Tee und wollte jetzt endlich ihr Buch hochnehmen und lesen. Aber. Aber ein Gedanke saß in ihrem Kopf: Und wenn es doch ein Mensch wäre, der da unter der Weide lag? Vielleicht. Vielleicht war das sogar eine Leiche. Hier stockte Johanna. Ließ ihren Thriller sinken, er fiel ihr vor die Füße. Warum las sie auch solche Sachen. Da passierten die unmöglichsten Dinge. Und kurbelten die Fantasie an. Sie ging noch einmal auf den Balkon: Der Sack lag noch da. Oder die Leiche. Ob sie hinuntergehen sollte um nachzusehen? Aber nein, es wurde schon dämmrig. Und sie war alt und ein bisschen wacklig auf den Beinen. Das war eine gute Entschuldigung. Und außerdem – wenn er sowieso schon tot war?

Der nächste Morgen war trüb, sehr trüb. Im Garten waren viele rotweiße Bänder gespannt, Menschen in Uniformen oder weißen Schutzanzügen hatten zu tun. Jetzt nahm Johanna ihren Gehstock, der im Schirmständer steckte, und ging hinunter. Sie musste Gewissheit haben, was da los war. Menschen standen herum, wussten vieles zu erzählen. Kinder hatten auf ihrem Schulweg einen Toten gefunden. Wer war das? Niemand wusste das. Der Mann war in den Graben gefallen – und gestorben. So erzählten es die Gaffer. Johanna schluckte. In ihrer Magengegend rumorte es, sie schluckte wieder und wieder. Sie – hätte – helfen – können. Er musste noch gelebt haben, war aufgestanden und dann in den Graben gefallen. Und sie hatte nichts getan. Aus Gleichgültigkeit. Sie wagte es nicht, sich umzusehen. Es war auch nicht mehr viel zu sehen. Die Leiche war abtransportiert worden.

Später am Tag gingen Polizeibeamte von Wohnung zu Wohnung und fragten, ob man irgendetwas gesehen hätte. Zu Johanna kam ein junger Beamter, der sich als Kommissar Lutz vorstellte. Johanna hatte sich inzwischen von ihren Gewissensbissen erholt und antwortete auf seine Fragen, ohne über die gestrigen Beobachtungen zu sprechen. Der Kommissar sprach von einem Toten, der im Graben gefunden worden war. Wie und wann er gestorben war, darüber sprach er natürlich nicht und Johanna hatte auch keine Lust zu fragen. Er bat sie, mit ihm auf den Balkon zu gehen, was sie auch tat. Er wollte ihr wohl beweisen, dass sie etwas hätte sehen müssen.
Johanna wagte es kaum, die Stelle unter der Weide zu suchen, auf der gestern der Mann gelegen hatte. Dieser Stelle näherte sich jetzt der dicke Gärtner mit seiner lauten Karre, stellte den Motor ab, stieg von der Karre, bückte sich - hob den Sack auf und verschwand.





Samstag, 4. Januar 2020

Das Mordkarussell

An mehreren Orten gelesen, zuletzt vor knapp zwei Jahren auf dem Grünen Sofa in Langenfeld

Das Mord-Karussell

„Mein Haus ist meine Burg“, zumindest sieht unseres aus einiger Entfernung so aus, war Ursulas Meinung. Jedenfalls so groß wie. Und seine Burg verlässt man nur im Notfall. Etwa wenn urplötzlich kein Kaffee mehr da ist. Oder Kaffeesahne. Warum sagt einem eigentlich niemand, dass nachgekauft werden muss. Vielleicht ist die Idee, die gesamte Küche digital aufzurüsten gar nicht so schlecht, smarthome sozusagen. Denk mal drüber nach, liebe Ursula. Ursula besaß einen Laptop und konnte ihn auch bedienen.
Aber jetzt erst einmal raus aus der Burg. Hinaus auf den Markt.
„Hallo Frau Baumberger, auch zum Einkaufen unterwegs?“
„Ja.“
Die war auch schon mal freundlicher.
Aber jetzt: „Haben Sie schon gehört?“, lässt sich Frau Baumberger dann doch zu einem Gespräch herbei.
„Gibt’s was Neues?“
„Herr Mansberg ist tot. Ermordet.“
„Waaas?“
„Ja, ermordet. Sagt jedenfalls Frau Wenig.“
„Kann man‘s denn glauben? War die Polizei da? Und wer war’s?“
„Sie stehen erst am Anfang mit ihren Ermittlungen.“
Diese Floskel kennt Ursula aus zahlreichen Fernseh-Krimis. Daher wird sie wohl auch Frau Baumberger haben, denkt Ursula.
„Sagt Frau Wenig?“
„Ja, die wohnt in der Nachbarwohnung und die Wände sind ziemlich dünn.“ Aha.
„Wann ist es denn passiert?“
„Vor drei Tagen.“
Das kann nicht sein, denkt Ursula, das hätte sie längst gehört. Es blieb so leicht nichts verborgen in der Seniorenresidenz. Erst recht nicht sowas. Da stimmte was nicht. Eine von beiden hatte eine zu lebhafte Fantasie, entweder die Wenig oder die Baumberger. Aber nur jetzt keine Zweifel zeigen, dann würde sie nicht weiterreden.
„War es Raubmord?“
„Wohl kaum, was war bei dem denn zu holen?“
„Na, wenn man ihn reden hört …“
„Ich weiß, Leitender Angestellter -  bei einer Bank. Bankdirektor.“
„Da kommt im Laufe des Lebens doch was zusammen.“
„Nicht, wenn man eine anspruchsvolle Frau hat.“
„Ja, kann sein, sie putzte sich gern heraus, immer etwas overdressed. Auch schon tot.“ Schweigeminute.
„Ich geh zu Edeka und Sie?“
„Ich muss erst noch zur Buchhandlung Weber, guten Einkauf.“



Ursula Beckstein musste natürlich auch zu Edeka, des Kaffees wegen. Und wen sieht sie da am Spirituosenstand: Herrn Mansberg. Wusste sie’s doch, die Todesnachricht war aus der Luft gegriffen. Aber vielleicht war was …
„Guten Tag, Herr Mansberg, geht’s gut, gibt’s was Neues?“
„Ja, weiß Gott! die Polizei war da.“ Ach.
„Was ist denn passiert?“
„Herr Obermeier soll ermordet worden sein.“
„Ermordet?“
„Ja. Tot. Erschlagen oder so.“
„Woher wissen Sie das denn?“
„Frau Wenig hat es mir gesagt, sie wohnt ja nebenan – und die Wände sind dünn.“ Aha.
„Wann ist denn das passiert?“
„Vorgestern. Ich selbst habe ja nichts mitbekommen, obwohl ich auf derselben Etage wohne. Das musste ich auch der Polizei sagen, die hat bei mir nachgefragt, ob ich etwas gehört oder gesehen hätte.    Was passiert war, haben sie mir natürlich nicht gesagt.“
„Wer mag denn wohl der Täter sein? Jemand aus dem Haus – oder aus der Verwandtschaft?“
„Es ist wohl noch nichts bekannt, die Polizei ermittelt in alle Richtungen.“
Auch den Spruch kannte Ursula aus den Fernsehkrimis.
Von wem stammte denn nun die Fehlinformation? Frau Wenig oder Frau Baumberger?
Herr Mansberg hatte eben verschämt sein Fläschchen Wodka zu allem anderen in den Wagen gepackt und ging Richtung Kasse. Da war nichts mehr zu holen.
Da – Frau Baumberger, immer noch beim Einkauf.
„Hallo Frau Baumberger, wissen Sie, wen ich eben getroffen habe?“
„Nee.“
„Herrn Mansberg.“
„Waaas?“
„Ja, quicklebendig. Wusste aber auch was von Polizei und Mord: Herr Obermaier. Übrigens auch ein Nachbar von Frau Wenig.“
„Sollte ich mich denn so verhört haben? Mansberg – Obermeier – nein, das kann nicht sein.“
„Außerdem soll es nicht vor drei Tagen, sondern vorgestern gewesen sein. Wie steht es eigentlich um die Gesundheit von Frau Wenig?“, fragte Ursula, diskret.
„Sie hat ihre Sinne durchaus beisammen – falls Sie auf so etwas anspielen.“


Die beiden Damen hatten ihre Einkäufe erledigt und machten sich auf den Rückweg zu ihrer Burg. In der Eingangshalle erwartete sie eine weitere Überraschung:
Herr Obermeier stand an der Rezeption und verhandelte über irgendetwas. Jetzt war es an Frau Baumberger, Nachforschungen anzustellen, schließlich war ihre Information – Mansberg. Auch wenn Ursula Beckstein behauptete, ihn gesehen zu haben …
„Herr Obermeier, lange nicht gesehen, alles in Ordnung?“
„Ja, natürlich, Frau Baumberger, und guten Tag Frau Beckstein. Gut eingekauft, die Damen?“ In keiner Weise angeschlagen, der Herr Obermeier. Und nun?
„Es gibt ein Gerücht, dass Ihnen etwas passiert sein soll,“ ergriff Ursula die Initiative.
„Angetan, du lieber Himmel, was heißt das denn?“
„Mord.“
„Kommen Sie erst mal beiseite, so etwas will hier niemand hören.“
„Aber wissen Sie etwas?“
„Ja, zum Thema Mord weiß ich etwas – Herr Mansberg!“
„Tatsächlich? Aber das stimmt nicht, ich habe ihn eben gesehen.“

„Dann hat man ihn anscheinend doch nicht verhaftet.“
„Verhaftet??“
„Verhaftet??“
Die beiden Damen wie aus einem Mund.
„Die Polizei war bei mir, fragte, ob ich etwas gehört hätte, erwähnte die Wohnung Mansberg. Daraus habe ich geschlossen …“
„Aber wer ist denn nun ermordet worden? Ist überhaupt jemand ermordet worden?“
„Keine Ahnung, vielleicht sollten Sie Frau Wenig fragen?“