Drei – zwei – eins – Licht! Am Baum erstrahlen die Kerzen, große und
kleine, und von den Seniorinnen und Senioren erschallt ein oh und ah. Der
Direktor wünscht eine schöne Adventszeit und animiert dazu, vom Glühwein zu
trinken. Die Bläser intonieren „Oh Tannebaum“ und Damen- und Männerstimmen kommen
dazu. Das Singen im Singkreis lohnt sich also doch, die Töne kommen klar und
fest.
Man nickt sich zu, wispert ein
paar zustimmende Worte. Die Stimmung ist heiter bis besinnlich. Eben
angemessen. Auch Johanna, Gerda, Susanne und Edeltraud nehmen teil.
“Was ist das denn da?“ Johanna schüttelt ihren weißen Kopf und guckt empört.
Susanne blickt in dieselbe Richtung und lacht. „Kaum einen Schluck getrunken
und schon beschickert.“ Nun schauen alle vier hin und schütteln einträchtig den
Kopf.
Der Direktor löst sich von seinen Gesprächspartnern und eilt zu Hilfe. Keine
Sekunde zu früh, eine alte Dame findet keinen Halt, torkelt weiter und droht zu
stürzen, der Gehstock poltert zu Boden. Er hakt sie unter und führt die Dame
hinein ins Haus. Da gibt es Sessel genug.
Kaum ist er wieder auf der großen Terrasse, deren Mittelpunkt der Baum bildet,
da schießt ein Rollator an ihm vorbei, Frau Müller klammert sich verzweifelt an
das Gerät, ihre Füße können nicht folgen, auch sie droht zu stürzen. Der
Direktor ist inzwischen kreidebleich geworden und blickt nervös um sich. Frau
Müller wird von zwei kräftigen älteren Herren aufgehalten und fürsorglich ins
Haus gebracht. Was ist los?
„Der Glühwein kann nicht schuld sein, ist doch mehr Orangensaft als Wein“,
bemerkt Edeltraud. Sie stellt ihr Glas aber vorsichtshalber auf einem
Serviertisch ab.
„Schnell weg damit“, sagt sie. „Wer weiß, was drin ist.“ Die übrigen Drei tun
es ihr gleich.
„Mir hat er nur nach Glühwein geschmeckt und ich steh‘ auch fest auf meinen
Beinen“, erwidert Johanna.
„Ich auch“, kommt es von Gerda und Susanne unisono.
„Wo haben denn die Gläser gestanden, bevor man sie hier herausgebracht hat?“
fragt Johanna.
„Was willst du damit andeuten?“, fragt Edeltraud.
„Es muss doch einen Grund geben, warum so etwas …“ Johanna stockt und deutet
schweigend auf einen der Bewohner, der dicht vor dem Baum steht, nein stand. Er
hat hinter sich gegriffen und einen Zweig zu fassen bekommen. Die Lichter
blinken hektisch, aber der Baum steht still. Der Mann sinkt zu Boden, lockere Kerzen
folgen.
„Ein Notfall, ein Notarzt, zu Hilfe“, tönt es von allen Seiten. Dann Stille.
Alle blicken sich um, ob etwa noch jemand zu Boden gegangen ist.
„Da, da drüben!“, Susanne hebt ihren Arm und weist in die Richtung schräg
hinter dem Baum. Tatsächlich. Eine Gestalt, verkrümmt und jammernd.
„Wenn das mal keine Panik gibt …“ unkt Gerda.
Und tatsächlich – alles schiebt sich hastig in Richtung auf die Tür, die ins
Haus führt.
„Schubsen Sie mich nicht!“, ertönt eine schrille Stimme.
„Weg da!“, eine andere, laut und deutlich, irgendwie brutal.
„Bitte bleiben Sie ruhig!“ Die Stimme des Direktors zittert, was nicht zur
Beruhigung beiträgt.
„Es kann Ihnen doch nichts passieren. Stellen Sie die Gläser ab. Aber bitte
vorsichtig, damit nichts zerbricht.“ Einer der Bewohner nimmt das Heft in die
Hand, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit. Aber schon hört man das Zersplittern
von Glas, das leise Knirschen unter den Schuhen. Blindlings schiebt man sich
weiter, restlicher Glühwein schwappt über auf die Kleidung des Vordermannes
oder der Nachbarin. Wenigstens ist er nicht mehr heiß.
Dann ertönt das erste Martinshorn, alle bleiben stehen, wie auf ein Kommando.
Gott sei Dank, Hilfe naht. Noch ein Wagen, ein weiterer. Die Helfer springen
heraus, Bahren werden geschultert, Rufe ertönen. Man sucht nach den Opfern. Die
sitzen im Zweifel noch in der Halle, das Laufen hatte ja schon vorhin nicht
geklappt.
„Bitte machen Sie doch Platz“, drängeln die Sanitäter und die Ärzte.
„Ja, wie denn?“, kreischt es erbost. Ja, wie? Ein dichter Pulk vor einer
schmalen Tür.
Der Mann oder die Frau, die hinter dem Baum gelegen hatte, wird als Erste auf
eine der Bahren gehoben. Niemand hatte sich um die Gestalt gekümmert. Die
Sanitäter stellen die Bahren ab, unter dem Baum ist ja jetzt Platz. Behutsam
schieben sie sich durch die verschreckte Menge und regeln am Eingang, wie man
langsam und ruhig in die Halle kommt. Hinter ihnen der Direktor, immer noch
leichenblass. Die Blaskapelle hat sich still und leise entfernt, wahrscheinlich
bangen sie um ihre Instrumente.
„Bitte bleiben Sie nicht in der Halle, sondern lassen Sie uns Platz frei für
unsere Arbeit.“
„Es sei denn, Sie brauchen selbst Hilfe,“ sagt ein anderer.
Das hätte er besser nicht gesagt: Schon bleiben einige stehen und scheinen sich
zu befragen, wie es ihnen denn geht. Schlecht. Sie greifen nach den Sanitätern
und versperren den Nachgerückten den Eingang. Manche krallen sich förmlich
fest, andere haben die Hände über den Kopf geschlagen, wieder andere scheinen
mit beiden Händen Magen und Darm zu befragen.
„Massenpanik im Altenheim,
wäre ne gute Schlagzeile.“
„Einen seltsamen Humor hast du, liebe Susanne,“ sagt mit strenger Miene Edeltraud.
„Außerdem ist das hier kein Altenheim, sondern eine Seniorenresidenz!“, mischt
sich eine Nachbarin ein, die mit den vier Damen an ihrem Platz geblieben ist. Sie
rückt ihren Pelz zurecht, wirft noch einen giftigen Blick auf Susanne und geht
stolz erhobenen Hauptes Richtung Eingang.
Edeltraud, Johanna, Gerda und Susanne rätseln bereits, wer da möglicherweise etwas
in einige Glühweingläser geschüttet haben könnte.