Samstag, 2. November 2019

Eine Frau zu viel

Kurzkrimi

Er saß hinter seinem Schreibtisch und grübelte. Sein Blick streifte über die Wand gegenüber: Ein großes Bild von zweifelhafter Qualität, Geschenk eines wichtigen Patienten. Davor der Besucherstuhl, leer. Auf dem Schreibtisch links der Computer, rechts die ersten Patientenakten. Die Sprechstunde begann erst später. Zeit also zum Nachdenken.
Er, das ist Mortimer Müller. Doktor Mortimer Müller. Sein Name beginnt vielversprechend mit einem angesehenen Titel, es folgt ein Vorname, der ihm immer gut gefallen hat. Aber dann: Müller. Unwillkürlich wandert seine linke Hand zum Mund, der Zeigefinder – nein, halt, das war einmal. Nägelbeißen ist TABU.
Du hast doch genug Stunden bei Sibylle, deiner liebsten Psychologin, verbracht, du hast das nicht mehr nötig. Ja, gut, in Ordnung. Dein Spruch, lieber Mortimer: Alles ist gut.
Mortimer lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der Blick aus blassblauen Augen wurde präziser, fiel auf das Bild seiner Frau, das auch auf dem Schreibtisch stand. Lilly. Lilly hatte ihn erwischt. Bei etwas weit Schlimmerem als Nägelbeißen. Mist verdammter.

Er hatte sein Leben so gut eingerichtet. Lilly als züchtige Hausfrau, Melanie als, ja, als was eigentlich? Als Trost, dass er eine züchtige Hausfrau zu Hause hatte? Na, ein bisschen mehr schon.
Wie haben Zweitfrauen auszusehen, fragte sich Mortimer oft. So wie Melanie. Schlank, blond, langhaarig und langbeinig. Dabei waren sie selten teurer als der heimische Haushalt. Hin und wieder fehlte ihm bei ihnen die Intelligenz, die Lilly mit in die Ehe gebracht hatte. Und die sie auch nach ihrer Heirat noch pflegte. Leider auch an ihm, Mortimer, abarbeitete. Früher, ja, da hatte ihm das Spaß gemacht, die vielen Wortgefechte. Da drehten sie sich auch noch um Höherwertiges, nicht um Melanie oder andere.

Mortimer musste eine Entscheidung treffen: Lilly oder Melanie. Was würde teurer werden? Der Abschiedshändedruck für Melanie wäre finanziell das kleinere Übel, gefühlsmäßig hingegen? Das galt es noch zu prüfen.
Nicht dass er Lilly nicht mehr mochte, sie tat ihm im Augenblick sogar herzlich leid, sie hatte eine Operation vor sich. Eine Scheidung war dadurch zurzeit überhaupt nicht möglich. Konnte er sie hinhalten? Wollte er überhaupt die Scheidung?  
Mortimer saß also hinter seinem Schreibtisch und grübelte.

Würde er sogar eine radikale Lösung akzeptieren können? Vor sich verantworten? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – das erfordert eine sorgfältige Abwägung. Hatte ihm Sibylle nicht immer wieder eingebläut, er müsse mehr an sich selbst denken, sich selbst wichtiger nehmen. Nun konnte er, zumindest sich selbst, beweisen, dass er dazu in der Lage ist. Der Gedanke verursachte einen tiefen Seufzer.
Aber wie? Wie sollte er eine radikale Lösung finden, ohne sich selbst zu gefährden? Das bedurfte einiger Überlegung. Nicht in der Wohnung, nicht in seiner Praxis. Unfall? Da geriet er doch auch sofort in Verdacht. Er war viel zu nah dran. Schon standen ihm Schweißtropfen auf der allzu hohen Stirn, benetzten sogar die kurzen Härchen am Rande.
Vielleicht eine Infektion? Lilly war anfällig für alles Mögliche. Melanie dagegen kerngesund. Wieso kam er auf Melanie?     Das wäre natürlich die radikalste Lösung. Die bedeutete: Freiheit. Frei sein, keine Fesseln, keine Einschränkungen, keine Vorschriften, endlich er selbst sein. Man würde ihn bedauern, die Familie wegen Lilly, die Freunde wegen Lilly und Melanie, welche Tragödie. Mortimer hatte eine starke Einbildungskraft, ihm kamen die Tränen.

Acht Uhr. Der erste Patient. Und noch einer, noch einer, schlimme Fälle, leichte Fälle. Niemand todkrank – das waren Fälle, die er nur schwer ertragen konnte.
Mittagszeit: Nach Hause konnte er nicht, also in die nächstgelegene Kneipe. Als er auf die Straße trat, fühlte er sich wohl wie selten. Wieso eigentlich? Der Aufstand vom letzten Abend war vergessen, die trüben Gedanken auch, der Praxisbetrieb war erstklassig gelaufen. War er nicht ein toller Kerl? Über die belebte Straße zu laufen war ihm zu riskant, so schnell war er nicht mehr, also bis zur nächsten Ampel und dann rüber. Den Kittel hatte er anbehalten, aber offen, das sah flotter aus.

Im Lokal wurde der Herr Doktor freundlich begrüßt. Er war beliebt, beantwortete die Fragen nach Krankheiten gern und ausführlich. Zum Essen wurde ihm auch gleich eine serviert: Wie konnte es sein, dass so viele Menschen im Krankenhaus von resistenten Keimen befallen wurden. Die ältere Kellnerin, Johanna, war davon betroffen gewesen. Auf der Intensivstation im Marienkrankenhaus.
„Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, so krank zu sein, dass man auf intensiv zu liegen kam,“ seufzte sie.
Doktor Müller hatte gleich einen Namen parat: MRSA. Daran litt man nicht nur, man starb auch daran, wenn man schon krank genug war.
Ja, ja, die Immunschwäche.
Auch Nichtärzte beherrschten heutzutage die Fachsprache. Dank Google.
„Nun lasst den Herrn Doktor doch erst mal seine Bratwurst essen“, sagte der Wirt energisch und die beiden Kellnerinnen zogen sich zurück. Der Herr Doktor aß seine Bratwurst, trank sein Pils, zahlte und entschwand. Um eine Idee reicher.

Eine teuflische Idee, fand Mortimer, als er wieder in seinem Sessel saß. Dass da noch niemand drauf gekommen war. Man brauchte doch nur den missliebigen Menschen mit diesem goldenen Keim zu infizieren und schon tat die Natur ihr Werk. Mal schnell nachsehen, wie der Keim genau hieß: Staphylococcus aureus. Hatte er doch recht in Erinnerung gehabt, golden.
Es bedarf natürlich einiger Vorbereitungen. Aber wozu hat man Freunde. Hatte er nicht das kleine Labor, konnte er nicht Heinz Holter um ein paar Abstriche bei den Tieren auf seinem Bauernhof bitten? Alles legal und sogar harmlos. Mortimer schluckte.

Heute Abend konnte er nach Hause gehen. Zwischen dem einen und anderen Patienten hatte er Zeit gehabt, einen Plan zu entwickeln. Es galt erst einmal, Zeit zu gewinnen. Er war bereit, Lilly um Verzeihung zu bitten, Melanie abzuschwören und sonst was als Strafe auf sich zu nehmen. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem Lilly ins Krankenhaus ging.

„Hallo Lilly, da bin ich wieder.“
Mortimer schwenkte den obligatorischen Blumenstrauß,     dass Champagner im Kühlschrank lag, das wusste er.    Und es klappte.
„Hast du mir etwas zu sagen, Mortimer“, fragte Lilly programmgemäß.
„Ja, habe ich, liebe Lilly, ich hatte ja heute den ganzen Tag Zeit, über alles nachzudenken“, sagte Mortimer wahrheitsgemäß.
Lilly strich ihre langen dunklen Haare zurück, nahm ihre Brille ab und sah Mortimer mit großen braunen Augen an, so etwas konnte sie.

„Du bist und bleibst eine miese Ratte. Wenn du dieses Mal nicht ehrlich bist, lasse ich mich scheiden und dann zahlst du. Auch wenn wir keine Kinder zu versorgen haben, ich habe dir dein Studium bezahlt und ich habe es schriftlich, dass du dich verpflichtet hast ...“
„Gut, gut, Lilly, um Gottes willen, red nicht von Scheidung, das ertrag ich nicht“, mit seinem allerehrlichsten Augenaufschlag bat er um Verzeihung und versprach, mit dieser Frau Schluss zu machen.
Notfalls würde er das für eine gewisse Zeit tun. Er musste aus einer Idee einen Plan formen, dazu würde er Zeit brauchen. Der weitere Abend verlief, wie er im Drehbuch zahlreicher Fernsehfilme stand. Was nichts Negatives heißen soll.
 
Doktor Mortimer Müller lag in seinem Bett und war mit sich und der Welt zufrieden. In seinem Schlafzimmer herrschte Frieden. Erst morgen müsste er mit Melanie sprechen und erst morgen würde er weiter über seine Pläne nachdenken.

Wochen später schrieben die seriösen Zeitungen der Stadt:
„Der verdiente Kardiologe Doktor Mortimer Müller wurde zu Grabe getragen. Welch tragischer Fall: Beim Überqueren der Straße vor seiner Praxis wurde er von einer Straßenbahn erfasst, einen Tag später erlag er seinen schweren Verletzungen. Vertreter sämtlicher Organisationen und Vereinigungen, denen Doktor Müller angehört hatte, folgten seinem Sarg. Der Leichnam seiner Gattin, Lilly Martensen-Müller, liegt immer noch in der Gerichtsmedizin. Er wird erst Tage später in demselben Grab zur ewigen Ruhe gebettet werden.“
Welch tragische Situation, da waren sich alle seriösen Blätter einig.

Andere Blätter gaben mehr her:
„Die Geliebte des bekannten Kardiologen Doktor Müller, Melanie X ist in Untersuchungshaft genommen worden. Ihr wird vorgeworfen, die Ehefrau ihres Geliebten während einer Behandlung im Marienkrankenhaus getötet zu haben. Auf welche Weise die Ehefrau zu Tode gekommen war, wurde von der Polizei nicht bekannt gegeben.“

„Die Ehefrau des Kardiologen Mortimer Müller, Lilly Martensen-Müller, 39, ist nach einer unkomplizierten Operation auf der Intensiv-Station des Marienkrankenhauses gestorben. Medizinkritiker wagen die Behauptung, dass wieder ein Todesfall nach Infektion mit MRSA zu beklagen sei. Der dritte in diesem Jahr in der Stadt.“

„Die angebliche Geliebte des Dr. Müller gab an, dass sie überhaupt nicht gewusst habe, dass die Ehefrau des Herrn Dr. Müller zur Behandlung im Marienkrankenhaus gewesen sei. Außerdem habe sie keinen Zugang zur Intensivstation der Klinik gehabt.“

„Die Klinikleitung bestätigt, dass Frau Melanie X keinen Zugang zur Intensivstation gehabt hat.“
„Die Bestätigung der Klinikleitung hatte zur Folge, dass Frau Melanie X. noch am Tag ihrer Festnahme wieder entlassen worden war.“


Weder Dr. Mortimer Müller noch seine Ehefrau Lilly Martensen-Müller hatten nahe Angehörige, niemand interessierte sich dafür, woran Lilly Martensen-Müller gestorben war. Der gemeinsame Grabstein trug die Namen Müller und Martensen-Müller.
Es war bekannt, dass Dr. Müller versucht hatte, den Namen seiner Ehefrau zu übernehmen. Wie man sieht vergeblich.








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